„Die Interessen von Kindern spielen in unserer Gesellschaft eine immer geringere Rolle“ konstatierte Renate Schmidt gleich zu Beginn ihres Vortrags. Mit Sorgebetrachtet die in Nürnberg lebende Exministerin, dass die Geburtenrate immer weiter sinkt, während die Lebenserwartung steigt. Doch: „Unsere Aktiendepots können uns nicht pflegen“ so Schmidt lakonisch. Der Hauptgrund für das sich immer weiter verschärfende Ungleichgewicht liegt ihrer Ansicht nach in den unterschiedlichen Interessenslagen der Generationen. Doch „individuelles Genervtsein wegen Kindergeschreis“ dürfe sich eben nicht auf das politische Handeln auswirken.
Die „Schlagseite zugunsten der Älteren“ habe bereits mit der Rentenreform von 1957 begonnen, bei der entgegen der eigentlichen Grundidee lediglich ein Zweigenerationenvertrag eingeführt wurde, der zu Lasten künftiger Generationen gehe. Es müsse deshalb heute darum gehen, „der Zukunft eine Stimme zu geben“, sagte die SPD-Politikerin und forderte deshalb ein Wahlrecht ab Geburt in Form eines Stellvertreterwahlrechts.
Dafür sprächen zudem Widersprüche im derzeit geltenden Gesetz. „Der erste Absatz von Artikel 38 des Grundgesetzes sieht allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen vor. In Absatz zwei jedoch wird Kindern und Jugendlichen unter achtzehn Jahren das Wahlrecht faktisch entzogen“, so Schmidt. Auch andere von Gegnern ins Feld geführte Argumente nannte Renate Schmidt beim Namen – und entkräftete sie gleich darauf unterhaltsam und argumentativ zwingend mit Passagen aus ihrem Buch „Lasst unsere Kinder wählen“. Mit einem Augenzwinkern warf sie beispielsweise einen Blick in die Zukunft und beobachtete sich und ihren noch nicht geborenen Urenkel dabei, wie der für die geistig bereits etwas eingerostete Uromi den Briefwahlschein ausfüllt und dabei je eine Stimme für deren politische Gesinnung und seine eigene vergibt.
Die Durchsetzung eines Wahlrechts für Kinder erfordere „Mut und Beharrlichkeit“, resümierte Renate Schmidt, die positiven Wirkungen seien jedoch immens – nämlich mehr Partizipationsgerechtigkeit, mehr Rücksichtnahme unter den Generationen und eine „neue humane Dimension“.
Die rechtliche Seite der Einführung eines Wahlrechts für Kinder beleuchtete Dr. Axel Adrian. In seinem 2016 erschienenen Buch „Grundsatzfragen zu Staat und Gesellschaft am Beispiel des Kinder-/ Stellvertreterwahlrechts“ geht der Notar, Rechtsexperte und Lehrbeauftragte an der Universität Erlangen-Nürnberg den Fragen nach, ob ein Kinderwahlrecht rechtlich möglich ist und ob der Staat nicht sogar die Pflicht dazu hat.
Ein genauer Blick auf die in Artikel 38 verankerten Wahlrechtsgrundsätze förderte Überraschendes zutage: So werden Kinder trotz des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl faktisch ausgeschlossen. Und mit Blick auf die Gleichheit der Wahl (gleicher Zählwert für jede Stimme), haben Kinder „momentan den Zählwert Null“. Juristisch scharf entkräftete Adrian auch die Vorwürfe, ein Kinderwahlrecht widerpreche den Grundsätzen der Unmittelbarkeit, Freiheit und Geheimheit der Wahl. Auch dem im Bundeswahlgesetz festgelegten Grundsatz der Höchstpersönlichkeit, das Gegner als Hauptargument gegen ein Stellvertreterwahlrecht anführen, ging Adrian an den Kragen. Höchstpersönlichkeit, so Adrian, impliziere nämlich keineswegs – wie oft behauptet – ein Stellvertretungsverbot.
Die Konsequenz lag für Axel Adrian auf der Hand: „Es besteht eine Rechtspflicht zur Einführung des Kinderwahlrechts, vorzugsweise als Stellvertreterwahlrecht“, so der Notar. Ein Blick auf die demographische Entwicklung zeige zudem, dass Eile geboten ist. Wenn die Geburtenrate weiter sinke wie bisher, könnten Eltern nämlich selbst mit den Stimmen ihrer Kinder bald keine demokratische Mehrheit mehr bilden. Ihnen müsse deshalb Minderheitenschutz gewährt werden.
Um Fragen zum Wahlausübungsalter oder „Wie wählen, wenn die Eltern eine andere politische Meinung vertreten als ihre heranwachsenden Kinder?“ ging es bei der anschließenden Diskussion. Für Renate Schmidt waren alle diese Fragen lösbar: „Das sind Nebenschauplätze, die uns nicht an der Einführung eines Wahlrechts für Kinder hindern dürfen.“ Damit Kinder „vom Objekt zum Subjekt der Politik werden“ und die Gesellschaft wieder „kinder- und familienfreundlicher“ wird, empfahl die Expertin in Sachen Familienpolitik sowohl den Familienverbänden als auch jedem Einzelnen, aktiv zu werden: „Schreiben Sie ihrem Abgeordneten, bitten Sie ihn, sich einzusetzen und haken sie nach. Denn nur wenn Druck von unten kommt, kann sich etwas bewegen.“
Genau das ist auch eines der vorrangigen Ziele des Familienbunds der Katholiken im Bistum Würzburg. Am 19. November lädt der FDK alle Interessierten zu einer Fachtagung unter dem Titel „Wir haben die Wahl! Unsere Kinder auch?“ ein. Neben dem Demokratieforscher und Publizisten Wolfgang Gründinger werden die Politiker Paul Lehrieder (CSU), Kerstin Celina (Bündnis 90/Die Grünen) und Kathi Petersen (SPD) sowie Schwimmweltmeister Thomas Lurz auf dem Podium vertreten sein. Im verbandlichen Teil will man dann über ein Positionspapier für die weitere politische Arbeit abstimmen.
Anja Legge