Nicht alle Kinder und Jugendlichen haben dabei ein Umfeld, in dem sie unterstützt werden und das mit ihnen die Bedrohungen gemeinsam durchleben kann. Zudem werden Kinder und Jugendliche gegenwärtig zur Flucht gezwungen oder befinden sich bereits auf der Flucht. Weiterhin gibt es viele Kinder und Jugendliche in Deutschland und in anderen europäischen Ländern, die Verwandte und Freund*innen in der Ukraine haben. Alle diese Kinder und Jugendlichen sind unmittelbar und mittelbar vom Krieg betroffen. Aber auch junge Menschen, deren Familien aus Russland stammen, sind damit u.U. konfrontiert, um das Leben derjenigen Familienangehörigen fürchten zu müssen, die den Mut aufbringen gegen den Krieg Position zu beziehen.
Zudem müssen alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die gegenwärtig mit den Bildern des Krieges konfrontiert werden, diese durchleben und verarbeiten. Sie sehen durch die Berichterstattung einen Krieg, den sie so bisher nicht kannten, das Aufwachsen in Frieden hat seine Selbstverständlichkeit verloren.
Entsprechend sind die Kinder- und Jugendpolitik, die Kinder- und Jugendhilfe und alle pädagogischen Organisationen, die mit jungen Menschen zusammenarbeiten, aktuell aufgefordert, Ängste der jungen Menschen ernst zu nehmen, sie in der Bearbeitung der beunruhigenden Erfahrungen zu unterstützen und die gegenwärtige Situation gemeinsam mit ihnen zu thematisieren, ihr Eintreten gegen Krieg und für Frieden zu fördern und zu begleiten:
- Es sind – erstens – Programme aufzulegen, um insbesondere Kinder und Jugendliche in der Ukraine unmittelbar zu unterstützen und ihnen Hilfsgüter, aber auch Schutz- und Bildungsangebote zukommen zu lassen. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf ein gewaltfreies Aufwachsen. Dieses wird gegenwärtig in der Ukraine außer Kraft gesetzt und massiv verletzt.
- Es sind – zweitens – alle Kinder und Jugendlichen auf der Flucht – insbesondere gegen-wärtig junge Menschen aus der Ukraine – in ihren sozialen und psychischen Bedarfen zu begleiten und mit ihnen unbürokratisch sichere Orte ihres Aufenthalts zu schaffen. Familien, die Verwandte aus der Ukraine aufnehmen, sind zu unterstützen.
- Es sind – drittens – alle Einrichtungen, in denen junge Menschen leben, gefordert, insbesondere in Schulen und in der Kinder- und Jugendhilfe, mit jungen Menschen die Berichterstattung und Bilder des Krieges zu verarbeiten, ihnen zuzuhören, Dialogbereitschaft zu signalisieren, Gesprächsangebote zu unterbreiten.
Die als europäische Zeitenwende beschriebene Aggression gegen die Ukraine macht auch vor der Kinder- und Jugendpolitik, den Bildungseinrichtungen und der Kinder- und Jugendhilfe nicht
halt. Mit diesem offenen Brief möchten wir auf die hieraus erwachsenen besonderen Herausforderungen hinweisen.
Das Eintreten für ein friedliches Europa, für die Universalität der Menschenrechte, das Selbstbestimmungsrecht von Ländern und den Schutz von jungen Menschen ist zwar gelebte Praxis; diese hat aber angesichts des Krieges in der Ukraine eine Dringlichkeit erfahren, die noch vor
wenigen Wochen kaum vorstellbar war. Und diese Praxis aktualisiert sich nicht mehr aus der Position einer Friedenssituation heraus, sondern agiert vor dem Hintergrund eines Bedrohungspotentials,
das für die große Mehrzahl der jungen Menschen bislang völlig unbekannt war.
Denken sie jetzt daran, mit den Kindern und Jugendlichen gemeinsam Ängste und Erfahrungen zu teilen. Helfen Sie, junge Menschen in der Ukraine zu unterstützen.
Prof. Dr. Karin Böllert, Vorsitzende
der Arbeitsgemeinschaft für Kinder-
und Jugendhilfe (AGJ)
Prof. Dr. Wolfgang Schröer,
Vorsitzender des Bundesjugendkuratoriums
(2019-2021)
Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik,
Deutsches Jugendinstitut
e. V.