Der Senat hatte aber offensichtlich Zweifel an der eigenen Argumentation oder Verfahrensweise. Sonst hätte er nicht für eine aus seiner Sicht bereits entschiedene Rechtsfrage eine mehrstündige mündliche Verhandlung angesetzt. Der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, hatte bereits im Mai 2017 öffentlich geäußert, dass man sich fragen sollte, „ob es möglich ist, Familien oder Eltern in der Sozialversicherung stärker zu entlasten“.
In den zwei vom Familienbund unterstützten Revisionsverfahren ging es darum, ob es mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes vereinbar ist, dass Familien trotz der kostenaufwendigen und für die Sozialversicherung unverzichtbaren Kindererziehung mit gleich hohen Beiträgen belastet werden wie Kinderlose. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2001 entschieden, dass Familien bei den Beiträgen zur gesetzlichen Pflegeversicherung entlastet werden müssen und eine Übertragbarkeit der Entscheidung auf die Renten- und Krankenversicherung nahegelegt. Dennoch hat das Bundessozialgericht die derzeit von Familien erhobenen Rentenversicherungsbeiträge erneut für verfassungsmäßig gehalten. Dies kritisiert Michael Kroschewski: „Der Gesetzgeber hat die ihm vom Bundesverfassungsgericht erteilten Aufträge in der Renten- und Krankenversicherung überhaupt nicht und in der gesetzlichen Pflegeversicherung völlig unzureichend umgesetzt. Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit muss das Bundessozialgericht die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien konsequent anwenden. Das hat es leider erneut nicht getan. Wir hätten uns gewünscht, dass die Kasseler Richter ihren Karlsruher Kollegen selbst die Frage vorlegen, ob die Beitragserhebung in der Sozialversicherung verfassungsgemäß ist. Da sie sich dazu aber wieder nicht durchringen konnten, bringen nun eben wir diese für die Gesellschaft bedeutende Rechtsfrage nach Karlsruhe.“
Für den Familienbund war diese mündliche Verhandlung dennoch ein Teilerfolg. Der Weg zum Bundesverfassungsgericht sei nun in weiteren Verfahren frei. Zudem konnten viele Argumente der Gegenseite widerlegt werden. In dem über zehn Jahre dauernden Rechtsstreit hatte das Bundessozialgericht zwischenzeitlich sogar geäußert, Kindererziehung sei schädlich für die Rentenversicherung, weil Eltern sonst mehr Beiträge zahlen könnten. „Viele schiefe Argumente sind endgültig vom Tisch und werden vor dem Bundesverfassungsgericht keine Rolle mehr spielen“, so Kroschewski.
Der Familienbund der Katholiken setzt sich für eine Anerkennung des von Familien erbrachten doppelten Beitrages in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ein. Die Argumente des Bundesverfassungsgerichts von 2001 sind angesichts der demografischen Entwicklung aktueller denn je: Eine umlagefinanzierte Sozialversicherung, bei der die jeweils jüngere Generation für die jeweils ältere zahlt, ist auf gut ausgebildete neue Beitragszahler existenziell angewiesen. Daher sind die auf die Kindererziehung und -betreuung entfallenden Ausgaben ein ebenso wichtiger Beitrag für die Sozialversicherung wie die Geldbeiträge. Junge Familien dürfen nicht stärker mit Beiträgen belastet werden als Bürger ohne unterhaltspflichtige Kinder. Daher müssen Familien bei den Sozialversicherungsbeiträgen in Abhängigkeit von der Kinderzahl entlastet werden. „Das hat das Bundesverfassungsgericht klar entschieden. Und das muss endlich auch vom Gesetzgeber umgesetzt werden“, finden Kroschewski. Für dieses Ziel kämpfen auch weiterhin der Familienbund der Katholiken und der Deutsche Familienverband im Rahmen der Kampagne „elternklagen.de“ auf juristischer und politischer Ebene.
(Andrea Bala)