Während Massimo schon fast im nächsten Klassenzimmer steht, lehnt Paul mit dem Rücken an der Wand. Keinen einzigen Schritt ist er bisher beim „Armuts-Spiel“ vorangekommen. Warum? „Ich bin ein 39-jähriger Obdachloser“, zuckt er desillusioniert die Schultern, „das sagt doch schon alles, oder?“
Die beiden Sechstklässler sind in die Rollen von Menschen aus verschiedensten gesellschaftlichen Schichten geschlüpft. Im Spiel wollen sie gemeinsam mit ihren MitschülerInnen Armut und sozialer Ungleichheit in Deutschland auf die Spur kommen. Um zu verstehen, wie es zu Armut kommt, und dann auch woran man Armut erkennt, worunter die Menschen leiden und was man dagegen tun kann. Die etwas unkonventionelle Herangehensweise ist Teil eines Workshops bei den SELF-Tagen am Würzburger Dag-Hammarskjöld-Gymnasium. SELF steht dabei für "Selbstständiges Erfahren, Lernen und Forschen". Das bedeutet: Statt im Klassenverband den Stundenplan abzuarbeiten, beschäftigen sich die Jugendlichen zwei Tage lang mit einem Thema. In der sechsten Jahrgangsstufe ging es unter der Regie der Fachschaften Katholische und Evangelische Religion um das Thema "Kinderarmut in Deutschland und weltweit". Neben Besuchen im "Infomarkt eine Welt", dem Kaufhaus „Brauchbar“ oder bei den Erlöserschwestern gab es Workshops zu unterschiedlichen Fragenstellungen.
Für einen dieser Workshops hat Religionslehrer Christian Herpich zwei Experten ins Schulhaus geholt, nämlich Alexander Kolbow von der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) und Cornelia Siedler vom Familienbund der Katholiken (FDK). Die beiden Verbands-Vertreter standen dabei nicht nur für „ihren“ Verband, sondern für ein ganzes Netzwerk verschiedener katholischer Organisationen. An der Kampagne „Armut trifft...“ beteiligen sich neben FDK und KAB auch das Kolpingwerk, die Ackermann-Gemeinde, der Katholische Deutsche Frauenbund, die Ländliche Familienberatung der Katholischen Landjugend und des Katholischen Landvolks, die Caritas, der Sozialdienst katholischer Frauen, die Gemeinschaft Sant‘Egidio und der BDKJ. Denn: „Armut betrifft ja nicht nur Familien und Arbeitnehmer, sondern auch Frauen, Landwirte oder Kinder und Jugendliche“, berichtet Alexander Kolbow den Kids. Die nicken erst etwas gelangweilt, doch als Kolbow ein Spiel ankündigt, leuchtet Vorfreude auf.
Alle MitspielerInnen erhalten dafür ein Zettelchen mit einer Rolle. Aus der Perspektive dieser Rolle sollen dann die folgenden Situationen und Aussagen beleuchtet werden. „Wer mit einem Ja antworten kann, geht einen Schritt nach vorne, alle anderen bleiben einfach stehen“, erklärt Siedler. „Ich hatte noch nie finanzielle Sorgen“, lautet die erste Aussage. Manchen fällt die die Antwort leicht, andere wägen ab, müssen überlegen, wie sich das Leben als alleinerziehende Mutter oder studierender Sohn gut situierter Eltern anfühlen könnte. Weiter geht es quer durch den Lebensgarten: „Ich habe eine schöne Wohnung. Ich habe keine Angst, von der Polizei angehalten zu werden. Ich bin gut versorgt, wenn ich krank werde. Ich bin mit meinem Beruf zufrieden. Ich kann mir ein Netflix-Abo leisten.“ An die Spitze des ungleichen Rennens setzen sich rasch Massimo, an diesem Tag Sohn eines Bankdirektors, sowie Juso-Vorsitzender und Jurastudent Emil. Ziemlich weit vorne dabei ist auch David, der im Spiel eine Ausbildung zum Fliesenleger macht und bei seinen Eltern wohnt. Der Obdachlose Hannes dagegen kommt keinen einzigen Schritt vorwärts, ebenso wenig wie der Flüchtling aus Afghanistan und die illegale somalische Immigrantin. Wirklich gut geht es auch Anton nicht, der im Spiel mit seinen fünf Geschwistern in einer kleinen Mietswohnung lebt und dessen Mutter an der Supermarktkasse arbeitet. Im Mittelfeld steht Madita, Tochter eines chinesischen Einwanderers, die sich eine erfolgreiche Fastfood-Kette aufgebaut hat. Finanziell geht es ihr gut, aber manchmal hat sie Angst vor Diskriminierung. Josef, ein 73-jähriger Rentner, lebt auf dem Land – ohne Arzt und Supermarkt im Ort – und bekommt die Dinge gerade so geregelt.
Schon während des Spiels tauchen Fragen auf: „Warum bist du so weit vorne? Wer bist denn du?“. Und immer wieder betretene Stille, wenn andere wieder und wieder zurückbleiben. „So unterschiedlich ist unsere Gesellschaft!“, bringt Alexander Kolbow das Ergebnis auf den Punkt. „In diesem Spiel hattest Du Glück oder Pech, bist in eine arme oder reiche Familie hineingeboren.“ Welche anderen Faktoren im Leben dazukommen, ist den SchülerInnen rasch klar: schlechte Rente, Flucht, schlechte Ausbildung, Arbeitslosigkeit, das Leben als alleinerziehendes Elternteil.
Drei Personengruppen beleuchten die Jugendlichen dann genauer. Mit erstaunlicher Klarsicht benennen sie den Zusammenhang zwischen Armut und Bildungsgrad, unterscheiden zwischen Billigjobs und gut bezahlten Berufen. Sie sortieren sich selbst in die Gesellschaft ein, sondieren den eigenen Bekanntenkreis und versetzen sich in die Lage ärmerer Menschen hinein. Dass jemand arm ist, sehe man zum Beispiel an der Kleidung: „Wenn der eine die neuesten Nike-Schuhe hat und der andere immer no-name-Schuhe trägt, kann das daran liegen, dass die Eltern wenig Geld haben“, konkretisiert Ilyia. „Die Rentnerin, die kein Geld mehr zum Kaffeetrinken mit der Freundin hat, schämt sich wahrscheinlich vor den anderen, geht dann nicht mehr mit und vereinsamt“, ergänzt Leon und spricht von Minderwertigkeitsgefühlen, Ausgrenzung und sogar Mobbing.
Auf die Frage, was Deutschland gegen Armut tut, haben einige eine gut informierte Antwort. „Für die, die kein oder viel zu wenig Geld haben, gibt es Hartz IV, das jetzt Bürgergeld heißt“, erläutert Emil. Außerdem gebe es staatliche oder kirchliche Einrichtungen, wo Kinder Ansprache, ein warmes Mittagessen, Hilfe bei den Hausaufgaben und Musik- oder Tanzunterricht bekommen, ergänzen Cornelia Siedler und Alexander Kolbow und zeigen einen kurzen Film über eine solche Einrichtung. Was jeder einzelne gegen Armut tun kann, ist dagegen nicht ganz so schnell klar. „Vielleicht einen Klassenkameraden zum Eis einladen, Kleider zum Caritas-Laden bringen und andere nicht ärgern?“, mutmaßt Gabriel – und hilft damit den anderen auf die Spur. Denn genau das ist für Alexander Kolbow und Cornelia Siedler die Quintessenz, die die Kids aus den Workshops mitnehmen sollen: „Die Augen aufmachen, sensibel sein für soziale Ungleichheit, aufstehen gegen Ungerechtigkeit und das tun, was für einen selbst möglich ist – auch im Kleinen.“
Anja Legge